Seltsamer Spazierritt

Paul.Bayer am 28. February 2012 um 23:57

Diese Kalendergeschichte stammt von Johann Peter Hebel [1]:

Ein Mann reitet auf seinem Esel nach Haus und läßt seinen Buben zu Fuß nebenher laufen. Kommt ein Wanderer und sagt: „Das ist nicht recht, Vater, dass Ihr reitet und lasst Euern Sohn laufen; Ihr habt stärkere Glieder.“ Da stieg der Vater vom Esel herab und ließ den Sohn reiten. Kommt wieder ein Wandersmann und sagt: „Das ist nicht recht, Bursche, dass du reitest und lässest Deinen Vater zu Fuß gehen. Du hast jüngere Beine.“ Da saßen beide auf und ritten eine Strecke. Kommt ein dritter Wandersmann und sagt: „Was ist das für ein Unverstand, zwei Kerle auf einem schwachen Tiere? Sollte man nicht einen Stock nehmen und Euch beide hinabjagen?“ Da stiegen beide ab und gingen selbdritt zu Fuß, rechts und links der Vater und Sohn und in der Mitte der Esel. Kommt ein vierter Wandersmann und sagt: „Ihr seid drei kuriose Gesellen. Ist’s nicht genug, wenn zwei zu Fuß gehen? Geht’s nicht leichter, wenn einer von Euch reitet?“ Da band der Vater dem Esel die vordern Beine zusammen, und der Sohn band ihm die hintern Beine zusammen, zogen einen starken Baumpfahl durch, der an der Straße stand, und trugen den Esel auf der Achsel heim.

Kommt uns die alte Geschichte etwas übertrieben vor? Wenn wir den Vater, den Sohn oder den Esel immer wieder austauschen – z.B. gegen eine Sau oder ein totes Pferd – dann lässt sie sich noch leichter auf so manche betriebliche Situation anwenden.

Muri, Mura, Muda

Mit Hebels Geschichte lassen sich die sogenannten „drei Mu” erklären. In der japanischen Sichtweise müssen die drei Mu vermieden werden, wenn man etwas sinnvolles oder nützliches erreichen oder herstellen will [2]:

Muri: (無理, Mu = Nicht, Un-; Ri = Logik, Vernunft, Wahrheit). Mu-ri bedeutet unsinnig oder unmöglich. Muri zu vermeiden erfordert einen klaren Blick auf die Realität, Sachverstand und Erfahrung. Man kann nur wirksam handeln im Einklang mit den Naturgesetzen und der Art und Weise wie die Dinge funktionieren. In der dritten Variante wird der Esel überlastet, und den Esel zu tragen ist völliger Unsinn.

Mura: (むら) bedeutet soviel wie Unebenheit, Unregelmäßigkeit, Inkonsistenz, Schwankung. Das ist das Auffallendste an unserer Geschichte: ihre Helden wechseln nach jeder Bemerkung eines Passanten ihre Methode. Sie scheinen nicht zu wissen, was sie wollen oder sie versuchen es jedem recht zu machen. Im Wechsel ihrer „Methode“ ist keine Linie, keine Verbesserung erkennbar.

Muda: (無駄, Mu = Nicht, un-; Da = beladenes Pferd). Mu-da ist also eine ungenutzte Möglichkeit, ein unbeladenes Pferd. Natürlich kann und soll der Esel etwas tragen. Wozu haben und füttern wir ihn schließlich? Vater, Sohn, Esel, jeder soll entsprechend seinen Möglich­keiten einen möglichst nützlichen Beitrag leisten, damit die Reise gut verläuft. Der Esel ohne Last oder gar den Esel zu tragen ist Muda [3].

Der Unsinn, den unsere Helden hier treiben, ist sowohl Muri, Mura und Muda. Die drei Mu sind nur drei Blickwinkel, unter denen wir die Situation betrachten. Diese Blickwinkel gehören zusammen und ergänzen sich gegenseitig. Wir brauchen sie alle drei, wenn wir die Situation verbessern wollen.

Sinn, Nachhaltigkeit und Nutzen

Das Lernen eines Handwerks, Berufs, einer Kunst … bedeutet, schritt­weise die drei Mu zu eliminieren, unsinnige Sichtweisen, Annahmen, Schwan­kungen, Praktiken … loszulassen und zu überwinden.

In der japanischen Sichtweise der drei Mu geht es darum, etwas falsches nicht zu tun, es als falsch zu erkennen und sein zu lassen. Das ist eine weitere Moral von Hebels Kalendergeschichte: am Anfang reisen unsere beiden Helden einfach mit ihrem Esel und tun das Richtige. Auf je mehr Passanten sie hören, je mehr fremde Konzepte sie dabei annehmen, desto mehr kommen sie vom richtigen Weg ab und desto verrückter wird die Situation. Ihre falschen Ideen müssen sie also wieder überwinden.

Die interessante Grundannahme der drei Mu ist, dass unter den ganzen falschen Konzepten und Praktiken die eigentliche richtige Essenz, der einfache und gesunde Kern liegt. Diese Substanz war immer schon da und kommt immer mehr zum Vorschein, je mehr Unsinniges, Unregelmäßiges, Unnützes man weglassen kann. Unter dem ganzen Haufen von Muri, Mura und Muda kommen die ungenutzten Potenziale zum Vorschein. Der richtige Weg besteht darin, schritt­weise alles Unsinnige, Unregelmäßige und Nutzlose loszulassen. Dann öffnen sich die Möglichkeiten, die vorhandenen Ressourcen und Möglichkeiten sinnvoll, regelmäßig und nutzbringend einzusetzen. Es entstehen Sinn, Nachhaltigkeit und Nutzen [4].

[1]
Hebels Schatzkästlein für die Jugend; K. Thienemanns Verlag Stuttgart, S. 60
[2]
Die drei Mu sind im Westen im Zusammenhang mit schlanker Produktion bekannt geworden. Sie sind in Japan Allgemeingut im Zusammenhang mit Lernen und Verbesserung. Damit stehen sie auch in Verbindung mit Monozukuri, der japanischen Kunst des „Sachen-Machens“, vgl. dazu Monozukuri – Another Look at a Key Japanese Principle. Ich habe darüber zuerst etwas im Aikido gelernt. Vgl. dazu auch diesen Bericht eines Karateka.
[3]
Muda wurde ins Deutsche als „Verschwendung“ übersetzt. Ihr Gegenteil ist Sparsamkeit. Diese Übersetzung und Sichtweise ist aber falsch, bestenfalls ein Teilaspekt. Das Gegenteil von Muda (Nutzlosigkeit) ist der Nutzen, den wir erreichen wollen. Das war eigentlich die Kernbotschaft von Taiichi Ohno.
[4]
Sinn, Nachhaltigkeit und Nutzen sind emergent. Sie entstehen aus der Realität, aus der Natur, wenn wir die drei Mu weglassen. So betrachtet ist die Evolution der natürliche Prozess zum Eliminieren der drei Mu.

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