Cargo-Kulte

Paul.Bayer am 21. November 2010 um 07:04

Cargo-Kult-Aberglauben von Eingeborenen bringt uns zum Schmunzeln:

Aber Aberglauben sind auch in Wissenschaft und Manage­ment verbreiteter als uns lieb ist. Unser Schmunzeln könnte uns also leicht im Halse stecken bleiben.

In einer berühmten Rede am Caltech hat Richard Feynman 1974 auf die Gefahr einer Cargo-Kult-Wissenschaft hingewiesen:

In der Südsee haben die Leute einen Cargo-Kult. Während des Krieges sahen sie Flugzeuge mit einer Menge guten Materials landen und sie wollen, dass dasselbe jetzt wieder passiert. Also haben sie Landebahnen eingerichtet, Feuer an ihrem Rande angezündet, eine hölzerne Hütte für einen Mann gebaut, der darin sitzt mit zwei hölzernen Teilen auf seinem Kopf, die wie Kopfhörer aussehen und Bambusstäben, die herausschauen wie Antennen – er ist der Lotse –, und sie warten, dass die Flugzeuge landen. Sie machen alles richtig. Die Form ist perfekt. Es schaut genau so aus wie vorher. Aber es funktioniert nicht. Kein Flugzeug landet. Deswegen nenne ich diese Dinge Cargo-Kult-Wissenschaft, weil sie offensichtlich alle Regeln und Formen wissenschaftlicher Untersuchungen befolgen, aber irgend etwas wesentliches fehlt, weil keine Flugzeuge landen. [1]

Feynman führt weiter aus, dass eine Cargo-Kult-Wissenschaft entsteht, wenn nicht alle Fakten aufgedeckt, berücksichtigt und offengelegt werden, die die aufge­stellten Theorien und Hypothesen falsifizieren können.

Cargo-Kult-Management

Ralph D. Stacey von der Universität von Hertfordshire beleuchtet Management aus der Perspektive der Komplexitätswissenschaften und fällt ein hartes Urteil:

Wir haben es immer noch mit den Auswirkungen der Kreditkrise und der globalen Rezession von 2007 bis 2009 zu tun. Diese Ereignisse haben es klargemacht, dass trotz aller rationellen, analytischen Techniken, Umfeldbeobachtung und internen Ressourcenanalysen, trotz der Visionen, Inspirationen und Charismen, trotz der Entwicklung lernender Organisationen und Wissensmanagementsysteme, trotz des Umstands, dass die meisten Topmanager in Businessschulen ausgebildet wurden, dass trotz alldem Manager, Berater, Politiker und Entscheidungsträger einfach nicht wissen, was gegenwärtig passiert, geschweige denn, was in Folge ihres Tuns oder Nicht-Tuns passieren könnte. Es ist ein Fakt, dass die Organisations- und Management­wissenschaften keine Wissenschaften sondern wissenschaftliche Kaiser ohne Kleider sind. Wenn wir auf die Geschichte der Allianz zwischen Management und Wissenschaft schauen, finden wir, dass ihr Ursprung wenig mit der effektiven Anwendung der wissenschaftlichen Methode auf Organisationen zu tun hat, sondern vielmehr mit den Versuchen der neuen Managerklasse, die im 19-ten Jahrhundert entstand, sich selbst als Beruf zu legitimieren … [2]

Ist dieses Urteil zu hart? Wohl kaum, wenn berücksichtigt, dass sich im Management viele Annahmen hartnäckig halten, die mehr mit Aberglauben als mit vernünftiger oder gar wissenschaftlicher Einsicht zu tun haben: z.B. dass Leistung über finanzielle Anreize motiviert werden muss, dass Multitasking zu Produktivitäts­steigerung führt oder dass das System einen höheren Durchsatz hat, wenn alle Ressourcen hoch ausgelastet sind. Cargo-Kulte im Management führen zu dazu, dass Ziele nicht erreicht werden, Systeme nicht funktionieren, Mitarbeiter frustriert sind … Kurz: das Flugzeug landet nicht.

Lean-Tool-Anwendung ohne Verständnis

Die Versuche vieler Unternehmen zur Einführung schlanker Produktion erinnern ebenso stark an Cargo-Kulte:

  1. Wie leicht nachzulesen ist, hat Taiichi Ohno Kanban entwickelt, um Über­produktion zu vermeiden, um die Produktion zu stoppen, wenn kein Bedarf da war. Wer Kanbankarten einführt ohne die Regeln zu verstehen, ohne die Produktion anzuhalten, ohne die Lagergrößen zu regulieren … frönt wohl eher einem Cargo-Kult als Kanban zu verstehen und seinen Wertstrom zu managen.
  2. 5S-Anwendungen im Officebereich beschränken sich oft auf das Aufräumen von Schränken und Schreibtischen, aber versuchen erst gar nicht, den Fluss von Aufgaben und Informationen zu visualisieren und zu verstehen.
  3. Als das TPS (Toyota Produktionssystem) entwickelt wurde versuchten seine Architekten, das System auf der strikten Anwendung der wissenschaftlichen Methode und auf der Basis der damals neuesten wissenschaftlichen Erkennt­nisse aufzubauen. Heute, Jahrzehnte später einige der Werkzeuge zu kopieren ohne systematisch nach ihrem Zweck zu fragen, ihre Zusammen­hänge zu verstehen und ohne neuere Entwicklungen wie die TOC (Theory of Constraints) zu berück­sichtigen, ist gefährlich nahe an einem Cargo-Kult.

Die eigentliche Grundlage des TPS ist die fragende Haltung: Ist das notwendig? Was ist der Zweck? Warum machen wir das? … Diese Fragen vertragen sich überhaupt nicht mit Aberglauben. Nicht blindes Nach­machen, sondern tiefes Verstehen ist Fundament von Verbesserung.

Cargo-Kulte überwinden!

Ist Ihnen im obigen Video das Stammesgefühl und die Erhabenheit des gemein­samen Glaubens der Eingeborenen an die Magie des Cargo-Kults aufgefallen? Hier liegen wohl die ethnologischen Wurzeln für Cargo-Kulte. Sie schaffen verant­wortungsvolle Posten wie den des Magiers, Häuptlings, Geistertänzers, bieten Identifikation und sozialen Zusammenhalt und sind daher nicht so leicht abzu­schaffen. Stammesmitglieder, die den Cargo-Kult hinterfragen, werden leicht aus der Gemeinschaft der „Gläubigen“ oder sogar aus dem Stamm ausge­schlossen.

Cargo-Kulte in Organisationen stehen deutlichen Verbesserungen im Wege und gefährden das Überleben in einer Zeit des Wandels. Überleben erfordert, die Praxis ständig zu überprüfen und überlieferte falsche Annahmen zu überwinden:

Das erste Prinzip ist, dass du dich nicht selbst betrügen darfst und dass du selbst die am leichtesten zu betrügende Person bist. Deswegen musst du so sehr darauf achten. Wenn Du Dich nicht selbst betrogen hast, ist es leicht, nicht andere Wissenschaftler zu betrügen. Du musst dann einfach nur auf gewöhnliche Weise aufrichtig sein. [3]

Nur kombiniert mit dem systematischen Hinterfragen unserer Praxis, mit scho­nungsloser Aufrichtigkeit und mit Offenheit für neue Erkenntnisse entstehen Lernen, Vitalität und Wachs­tum. Im Gegensatz zu den Eingeborenen steht uns dafür die wissenschaftliche Methode zur Verfügung.

[1]
Richard Feynman: Cargo Cult Science. Engineering and Science 37:7, Juni 1974, S. 10–13.
[2]
Ralph D. Stacey: The Demand for Management Tools and Techniques, Complexity & Management Centre, Blogeintrag 2.10.2010
[3]
Richard Feynman: Cargo Cult Science. s.o.

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3 Kommentare zu “Cargo-Kulte”

  1. Dieter Kalmbach

    Hallo Herr Bayer,
    toll dass Sie hier Richard Feynman ausgegraben haben. Ich musste sofort wieder an sein Buch “Sie belieben wohl zu scherzen …” denken. Er hatte einen tollen scharfen Blick auf die Dinge und konnte Sie einfach gut vermitteln.
    Viele Grüße
    Dieter Kalmbach

  2. Paul.Bayer

    Hallo Herr Kalmbach,
    Dick Feynman musste ich nicht „ausgraben“. Es war schon lange fällig, ihn mal auf wandelweb.de zu Wort kommen zu lassen. Er war seiner Zeit so weit voraus, ein passionierter Entdecker und toller Erzähler. Zum Glück für uns stehen etliche Videos mit ihm im Netz. Ich mag zum Beispiel gerne „The Pleasure of Finding Things Out“. Aber auch seine Vorlesungen waren ein Genuss.
    Viele Grüße und viel Spaß,
    Paul Bayer

  3. Kai Rädisch

    Hallo Herr Bayer,
    der hier Cargo-Kult genannte Effekt ist bei Latzko in “4 days with Dr. Deming” bereits als “superstitious learning” beschrieben.
    Einige Internet-Beträge bringen hierzu auch den Begriff “HALO-Effekt” ins Spiel – Ich denke gemeint ist dasselbe.
    MFG
    aus Berlin
    Kai Rädisch

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