Kaizen und Kreativität

Paul.Bayer am 23. November 2007 um 16:44

Leonardo da Vinci, Entwurf eines Faltboots, ca. 1486

Manche Menschen glauben, sie sind nicht kreativ und nicht gut im Gewinnen neuer Ideen. Im Kaizen denkt man dagegen, dass alle Menschen über einen natürlichen Erfindungsreichtum verfügen. Es ist aber notwendig, die (meist mentalen) Faktoren zu eliminieren, die die natürliche Kreativität behindern. Ist die natürliche Kreativität einmal freigesetzt, kann sie entwickelt werden.

Kreativitätstechniken wie Brainstorming versuchen vorübergehend die Hindernisse für Ideen auszuschalten. Kaizen geht weiter und enthält Regeln, die die menschliche Kreativität bei allem, was wir tun herausfordern.

Das Geheimnis der kleinen Schritte

Eine der Kaizen-Einsichten ist die, dass wir unsere Möglichkeiten selbst beschränken, wenn wir immer nur nach großen Erfindungen und perfekten Lösungen suchen. Sakichi Toyoda war Erfinder und hatte verstanden, dass grosse Erfindungen aus einem Strom vieler kleiner Versuche und Verbesserungen hervorgehen. Deswegen fordert Kaizen dazu auf, kleine, sofort machbare Schritte zu tun und die Suche nach dem „großen Wurf“ erst einmal wegzulassen oder hinten anzustellen.

Kaizen Regel 4 sagt: „Suche nicht nach sofortigen perfekten Lösungen“. Die meisten Leute zensieren ihre eigenen Gedanken und die anderer Personen indem sie die Nachteile von Ideen aufführen. Dadurch wird der Gedankenstrom sofort blockiert. Um diese Blockade aufzuheben brauchen wir kein formales Brainstorming. Kaizen beseitigt diese Hürde indem es die 60%-Lösung für besser hält als die 100%-Lösung (falls es überhaupt so etwas gibt).

Nehmen wir ein Beispiel: An einem Promille unserer Produkte tritt ein Fehler auf, also 10 Fehler auf 10.000 Einheiten. Eine 60%-Verbesserung reduziert die Fehler auf 4, zwei 60%-Lösungen reduzieren die Fehler auf 1,6, drei auf 0,6 usw. Die 100%-Lösung ist in der Regel schwer umzusetzen oder wird teuer. Also versuchen wir besser eine Dynamik kleiner, einfacher, schnell aufeinanderfolgender Verbesserungen zu erzielen anstatt lange auf eine 100%-Lösung zu warten.

Das Toyota-Entwicklungssystem

Das Toyota Entwicklungssystem treibt die Logik der kleinen Schritte noch weiter. In einem mehrstufigen Prozess werden in kleinen Teams verschiedene Prototypen entwickelt und getestet, schrittweise weiterentwickelt und miteinander kombiniert.

Nippon-Densos Entwicklungsprozess aus [1]

Dieser scheinbar aufwändige hochparallele Prozess der kleinen Schritte ist doppelt so schnell und wesentlich wirksamer und effizienter als der Ansatz anderer Autohersteller, bei dem mit wenigen Designs größere Schritte gemacht werden, die dann in aufwändigen Iterationschleifen nachgebessert werden müssen [1, 2, 3].

Der Strom der Kreativität

Wenn Kaizen die Grundlage und der Kern aller Aktivitäten ist, erzeugt das einen Strom der Kreativität: viele Vorschläge, Erfahrungen mit Problemlösung und ständiger Veränderung, eine Belegschaft von Erfindern, denen das praktische schnelle Handeln wichtiger ist als langwierige Abstimmungsrunden. Auf dieser Grundlage gedeihen auch Innovation oder Durchbruchsverbesserungen (Kaikaku). Westliche Unternehmen haben versucht, zusätzlich zu ihrem Innovationsprozess kontinuierliche Verbesserungsprozesse aufzusetzen. Aber das stellt die Verhältnisse auf den Kopf. Kaizen bedeutet: jeder hat die Möglichkeit und ist aufgefordert als Teil seiner täglichen Arbeit, bei sich und in seinem unmittelbaren Wirkungsfeld ständig etwas zu verbessern. Genau das bildet den Humus für Innovation und Kaikaku.

[1]
Ward, Liker, Christiano, Sobek, The Second Toyota Paradox, How Delaying Decisions Can Make Better Cars Faster in MIT-Sloan Management Review 1995/1 (der Artikel ist die Gebühr von 6,50$ wert)
[2]
M. N. Kennedy, Product Development for the Lean Enterprise: Why Toyota’s system is four times more productive and how you can implement it.– 2003
[3]
Morgan, Liker: The Toyota Product Development System.– 2006 Productivity Press

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